Die Prophezeihung von der fehlenden Erinnerung

„Die Erinnerung“, hört er sie noch sagen,  „sie wird dir fehlen. Du wirst auf dich allein gestellt sein, angewiesen auf das Wissen deiner Seele, die dort wo du hingehst niemand kennt. Du wirst ganz von vorne beginnen müssen und nichts mehr wissen, von uns, deinen Schwestern und Brüdern und von der Liebe, die uns verbindet und leben lässt. Alles Wissen wird tief in dir vergraben sein und niemand außer dir selbst wird Kenntnis davon haben.“ Es ist Eemiret Fysin ayel Braan, seine Schwester und Lehrerin. Sie schaut ihn ernst an.
„Aber ich will sie ja mitbringen und den anderen zeigen“, erwiderte Aamar Synin, „das ist doch meine kommende Aufgabe dort, die Kraft der Liebe zu verteilen“.
„Diese Kraft wird verschüttet sein“, mischt sich nun Yikanan Fillim eyen Monaat ein, der die ganze Zeit schweigend bei ihnen steht.
„Du wirst großen Schmerz empfinden und Leid – dort in dir – wo die Kraft der Liebe wohnt.“ Er schaut gedankenversunken in die Ferne. Dann wendet er sich wieder direkt an Aamar Synin ayon Freejab.
„Diese Schmerzen aber werden dir helfen, dich zu erinnern. Sie werden jene Kraft sein, die notwendig ist für deine Aufgabe.“  Yikanan, der schon immer nur wenige Worte gebrauchte, machte eine kurze Pause.
„Ja, mein Bruder, es wird unvorstellbar weh tun und genau das wird dir helfen, dich zu erinnern“. Aamar versucht zu verstehen. Langsam scheint ihm klar zu werden, dass seine Reise unvorstellbar sein wird und er…
„Du sagtest, die Zeit spielt eine große Rolle dort, Eemiret“ unterbricht er seine Gedanken, die zum ersten Mal den leuchtenden Funken in Gefahr sehen.
„Ja, sie leben in einer beengten Zeit. Im Kleinen von Sonnenlicht zu Sonnenlicht und im Großen, vom Aufstieg einer Erfindung bis zu deren Untergang. Sie leben in Zyklen von erfolgreicher Ausbeutung und darauf folgendem Zusammenbruch. Ja, sie werden dich fesseln mit ihrer Zeit“.
Aamar blickt auf. Seine Augen treffen auf jene von Yikanan Fillim. Sie lächeln.
„Ich bin Aamar Synin ayon Freejab“, wendet er sich wieder Eemiret zu, „mich kann man nicht gefangen nehmen. Weder mit Zeit , noch mit Geistlosigkeit, von der du mir erzählt hast“. Er geht ein paar Schritte und dreht sich dann zu ihr hin.
„Ich danke dir für deine Belehrungen, sie werden mich auf meiner Reise begleiten und mir eine große Hilfe sein“.
„Du bist ein Großer, Aamar Synin ayon Freejab. Wenn ich dir helfen darf, ist das eine Freude für mich und natürlich weiß ich, dass du entschlossen bist und rein. So bist du ein Sieger, und du stehst im ewigen Licht“. Emiret Fysins Augen leuchten.
„Ich bin mit Freude erfüllt, hier von Angesicht zu Angesicht mit dir zu stehen, Aamar Synin“.  Ihr langes, buntes Kleid schwingt mit der kreisenden Bewegung ihres Körpers mit. Sie hat sich zu Yikanan hingedreht und ruhevoll entfernen sie sich gemeinsam.
„Es ist nur die fehlende Erinnerung, die mich nachdenklich stimmt. Aamar wird dort nichts mehr wissen von uns und unserem Leben im Garten der Liebe“, sagt sie zu Yikanan, während sie zu Boden blickt.
Aamar sieht sie zwischen einem Meer wild wachsender Blumen langsam verschwinden.

Günther Floner

Kulturarbeiter Wahrheitssucher