Der Most wird heuer sicher a wieder recht guat werden

„Der Most wird heuer sicher a wieder recht guat werden, do bin i ma sicher. Hast schon g’schaut, Michl, die Äpfel sowieso, owa a die Birn‘ san sauguat.“ Der Mandl Samthaler zwinkerte lachend und hob den Krug prostend in die Höhe, „und Gott sei Dank hob i noch genug vom vorigen Johr, weil bis zum Neichn dauerts noch a Weil.“
Er war inzwischen sehr selten bei Michael Blankenheim. Die ‚Haxn‘ – seine Beine, funktionierten nicht mehr so wie früher, bedauerte er manchmal, aber ohne Selbstmitleid und seine alltäglich gute Laune schien nicht darunter zu leiden. Hager und kleinwüchsig mit tausend Falten im Gesicht zeigte er beim Lachen seine drei noch übriggeblieben Zähne. Nach vorne leicht gebückt, auf einen Aststock gestützt tauchte er dann, von der Seite des Waldes her kommend, wie eine Erscheinung aus einer anderen Zeit bei der Gartentür auf. Die Finger seiner abgearbeiteten, schwieligen Hände hatten dicke Knorpel an den Gelenken und es schien unvorstellbar, dass er damit noch immer seine ‚Tschick wuzln‘ – seine Zigaretten selbst drehen konnte.  Er bewohnte nur eine kleine Kammer neben dem Kuhstall, die ihm der Wiesenreithhof-Bauer zur Verfügung gestellt hat und der Hermann wollte dort keine Gäste haben.
„Freut mich, dass du wieder einmal hergekommen bist, Mandl. Es ist mir, wie du weißt immer eine Ehre …“
„Geh red net so an Bledsinn daher, Michl. Ich bin’s jo nur, der alte Mandl-Knecht. Wos bin i denn schon? Jetzt schon gar nicht mehr, owa i war früher a nix“, unterbrach ihn der Hermann Samthaler. Sie unterhielten sich dann über die einfachen und wichtigsten Dinge des Lebens, wie das Gedeihen von Obst, Gemüse oder Futterpflanzen, über den Nachwuchs in der Tierwelt und über den Zustand des Waldes. In allen wichtigen Angelegenheiten war er ein Lehrer für Michael, nicht nur in den Bereichen Natur und Biologie. Auch und vor allem hatte Hermann ihm gelehrt die Bibel zu lesen und in ihren Zusammenhängen zu verstehen. Er hatte ihm die Zuordnungen und die Verknüpfungen klar gemacht, ihm erklärt, wie es möglich ist, hineinzufinden in diese verschachtelten Darlegungen.
„Nein, sag das nicht Hermann. Ich übertreibe nicht, wenn ich von Ehre rede, aber sicher soll ich auch von Hochachtung reden im Zusammenhang mit deinem Wissen, Hermann, deinen Qualitäten. Du bist ein Besonderer, einer, den es wahrscheinlich gar nirgends sonst mehr gibt. Du bist ein Weiser.“
„Auf das hinauf wuzl i mir jetzt eine“, gab Hermann Samthaler zurück. „Kannst du dich no erinnern, wia i do im Wald gsessn bin und du auf a moi …“
„Sicher, Hermann. Es war wie eine Erscheinung. Du warst wie eine Erscheinung, ein Wunder. Ich hatte gerade einen anstrengenden Tag – das war zwar meistens so bei mir, aber an dem Tag ganz besonders.  Ich war mit meiner Entscheidung das Haus hier zu mieten ziemlich im Zweifel und auch sonst völlig im Dunkeln über meinen eigentlichen Vorsatz. Planlos also und wie so oft dann: unterwegs. Gehen, du weißt schon, einfach gehen.“
Hermann hörte bedachtsam und verschmitzt lächelnd zu. Seine duftende Kräuterzigarette schmauchte er genussvoll.
„“Nichtsahnend gehe ich also dahin, den Blick zu Boden gerichtet, wie üblich. Meine Umgebung missachtend, wie des Öfteren,  komme ich also gerade aus dem Fichtenwald heraus auf die kleine Lichtung mit der großen Buche in der Mitte und ich denke mir nichts dabei, da sehe ich dich da sitzen im Schatten.“ Michael unterbrach sich kurz. „ Es muss recht heiss gewesen sein an dem Tag und …“
„Jo, es war der 27. Juli, i was es noch gaunz genau und wirklich, es woa gaunz hass an dem Tog, weil mei Blusn woa gaunz vaschwitzt.“
Michael schaute Hermann überrascht ins Gesicht.
„Du kannst dich noch so genau erinnern, Hermann? Ich dachte, das war nur für mich ein so bedeutendes Erlebnis, ein besonders Einschneidendes.“
„Du bist a net irgendwer, weißt, Michl. Du bist ma schon a ins Aug‘ g‘sprungen damals.“
„Danke, Hermann. Auf jeden Fall war ich überrascht, jemand da mitten im Wald anzutreffen und noch dazu dieses Bild: du sitzt da, im Schneidersitz am Boden, an die dicke Buche gelehnt. Uralt bist du mir vorgekommen mit deinen struppigen, schlohweißen Haaren und beim Näherkommen dann deine Hände. Die sind mir auch schon bei dieser ersten Begegnung aufgefallen, ich hatte vorher noch nie solche Hände gesehen – die könnten Romane erzählen, war mein erster Gedanke damals.“
„I bin a uralt, Burschi, des is dir net umsonst so vorkommen“, schäkerte Hermann Samthaler.
„ ‚Möchten der Herr vielleicht kurz Platz nehmen und mir ein wenig Gesellschaft leisten? ‘ hast du mich dann angeredet und ich konnte dem nur ohne genauer zu überlegen Folge leisten. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, was wir dann geredet haben. Viel sicher nicht und das Buch, dein abgefetztes, schmuddeliges und vergammeltes Buch, das neben dir lag und aussah, als würde es sich bei der nächsten Berührung auflösen und in ihre Einzelteile zerfallen, das ist mir erst später aufgefallen.“
„Jo, meine Bibel. Die hot schon viel erlebt.“
„Ja, gerade noch hab‘ ich dein Buch entdeckt, im letzten Moment und dich darauf angesprochen und …“
„ … und i hob gsogt, des geht di nix aun, mein Herr, des is meine Bibel.“
„Das hab ich dann natürlich nicht auf mir sitzen lassen, ich hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Normalerweise steht die Bibel unberührt und wie neu fein säuberlich eingeordnet im Bücherschrank. Ich hatte ja eigentlich schon gar nicht mehr daran gedacht und ohne irgendeine innere oder äußere Vorankündigung, völlig unerwartet überfällt mich auf einmal dieses Bild, diese Chance. Erst dann war die Sicht offen. Erst jetzt wusste ich, dass es soweit war, erst jetzt, da ich schon nicht mehr daran gedacht, nicht mehr damit gerechnet habe: ich hatte einen Bibel-Lehrer gefunden. Ich habe dir sodann offenherzig Löcher in den Bauch gefragt und du wolltest zuerst gar nicht antworten und dann hast du doch lustige, ja wirklich herrlich aufgeräumte Späße entgegnet, dass mir die Spucke wegblieb.“
„ ‚Jo, i schau gar net so aus, als könnt i lesn, gö‘, hob i gsogt domols.“
„Und ‚der Jesus is a super Typ. Wenn‘st dem nochfolgst, kannst nix verkehrt mochn‘ hast du dann auch noch gesagt und ‚Schluss iss jetzt mit dem. Des is wos für mich allan, net für andere. Wenn i beten tua, dann mog i net bled reden hör’n von andere Leit‘ hast du dann noch weiter erklärt und damit war das Thema für dich erledigt. Du bist aufgestanden, hast gesagt ‚so, jetzt iss Zeit für uns‘, hast mir noch die Hand geschüttelt und weg. Weg warst du, alter Mann, schneller als ich habe schauen können.“ Michael Blankenheim lachte fröhlich.
„Jo, die Alten san noch af zack. Do host di g‘wundert, Bua, gö“, warf Mandl Samthaler ein und formte Rauchkringel mit seinen Lippen.
„Es hat dann einige Wochen gedauert, bis zum nächsten Wiedersehn und dann weitere Monate, keine Ahnung mehr wie viele, bis ich dich überzeugen konnte, dass ich bei dir lernen möchte, die Bibel zu lesen.
„ ‚Lesen is des ane, versteh‘n des andere‘, hob i dann zu dir gsogt.“
„Ja, und ich habe geantwortet: Beides. Lesen und verstehen möchte ich. Ich habe so stark das Gefühl, ich weiß gar nicht warum, es sitzt so stark und tief in mir drinnen, ich muss unbedingt den Jesus verstehen. Und alleine bin ich nicht weitergekommen und nie war Hilfe zu sehen. Lauter Klugscheißer oder Abgewendete, Religiöse oder Areligiöse, beide völlig ungeeignet und ohne Wissen.  Ich habe versucht, diesen Schmöker Bibel irgendwie zu bezwingen, ich habe mich bemüht, zu lesen mit der Vorstellung, dass ich das dann auch kapieren werde. Aber Fehlanzeige. Niederlage auf der ganzen Ebene.“
„Jo, de Bibel kaun man et einfoch von vorne weg durchlesen, hob i daun gsogt zu dir …“
„   und ich habe mich gefreut, weil ich mich bestätigt gefühlt habe. Ich wusste, dass es nicht nur an mir gelegen ist, dass da nichts daraus geworden ist.“
„Do iss besser waunst von hinten aunfaungst zu lesen. Besser, owa a nicht richtig, war mei Antwort.“
„Ja, Hermann, so war es. Und dann haben wir wirklich, ich konnte es gar nicht mehr richtig glauben, ja dann hast du begonnen, mir zu zeigen, wie man die Bibel lesen und verstehen lernen kann.“
„Jo, i hob da zuerst den Aufbau erklärt. Und daunn hom wir erst ang‘fangen zu Lesen.“

Günther Floner

Kulturarbeiter Wahrheitssucher